Teil 1

5–8 Minuten

„Die soziale Welt ist eine Bühne, eine komplizierte Bühne sogar, mit Publikum, Darstellern und Außenseitern, mit Zuschauerraum und Kulissen. Der Sozialwissenschaftlicher, der dieses Element der Selbstdarstellung in seine Begriffe hineinstilisiert – Rolle, Sanktion, Sozialisation usw. -, nimmt nur auf, was die Wirklichkeit ihm bietet.“ – Lord Ralf Dahrendorf

Es ist nicht unüblich in den Sozialwissenschaften soziale Interaktionen zwischen Individuen mit Hilfe der Theatersprache zu erklären. Die Interaktion wird als Inszenierung, als Darstellung begriffen, bei der die Akteure in ihren unterschiedlichen Rollen miteinander agieren.

Die soziale Rolle

Bestimmte Rollen füllt dabei ein jeder von uns im Laufe seines Lebens aus: Die Rolle der Tochter, der Schwester, der Mutter, der Tante, der Freundin, der Kollegin usw. oder eben die Rolle des Sohnes, des Bruders, des Vaters, des Onkels, des Freundes, des Kollegen usw.

Diese Rollen sind mit unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Erwartungen verknüpft. Manche Rollen basieren zum Beispiel auf emotionaler Nahbarkeit, während wiederrum andere ihren Fokus auf gemeinsame Tätigkeiten oder gar Formalitäten setzen. Auf Grund unserer Erwartungen bewerten wir als Außenstehende oder als Zuschauer die Rolle, die der Betroffene spielt.

Die soziale Rolle, die der Akteur vor seinem Publikum einnimmt, ist der Versuch seine Realität bzw. seine Darstellung der Realität mit anderen zu teilen. Es soll ein bestimmtes Bild vermittelt werden und die Zuschauer sollen einen bestimmten Eindruck von dem Akteur gewinnen. Im Zweifelsfall soll diese Wahrnehmung natürlich positiver Natur sein.

Die Inszenierung soll den Zweck erfüllen, das Publikum von sich und seiner Rolle zu überzeugen. Da die gesellschaftlichen Erwartungen an die bestimmten Rollen relativ klar formuliert sind, vermag es gar nicht so schwer erscheinen diese perfekt zu spielen.

Das Publikum

Das Publikum setzt sich schon mit bestimmten Erwartungen in den Zuschauerraum und hofft von der Inszenierung auf der Bühne eingenommen zu werden. Dabei darf es auch ruhig einige überraschende Wendungen oder unerwarteten Kniffe geben – so lange der Darsteller wieder in seine Rolle zurückfindet, kann das Publikum dies als „charismatisch“ oder interessant einordnen. Solche Überraschungen können als ein Mensch mit „Ecken oder Kanten“ interpretiert werden und wecken das Interesse beim breiten Publikum.

Der Darsteller muss in jedem Fall von seiner eigenen Rolle überzeugt sein. Seine Inszenierung muss seinem Glauben daran entspringen, dass diese wahr ist und der „wirklichen“ Realität entspringt. Der Glaube an die eigene Rolle kann dann an das Publikum weitergetragen werden, die diese Inszenierung als „aufrichtig“ betiteln würden.

Anders verhält es sich bei dem Darsteller, der seine Rolle nicht ehrlich nach außen transportieren kann. Er glaubt selbst nicht an seine Inszenierung und wird vom Publikum deshalb oft als „zynisch“ bezeichnet werden. Die Darstellung des Einzelnen und das Ausleben seiner Rolle kann also zwischen Aufrichtigkeit und Zynismus schwanken und sich im Laufe der Zeit in beide Richtungen bewegen. So gehören Zweifel an der eigenen Inszenierung dazu.

Oder anders formuliert: Jeder macht im Laufe seines Lebens Krisen durch oder hinterfragt seine Identität. So lange wir in jedem Fall nur unsere Wahrheit nach außen transportieren, bleiben wir authentisch – das stört das Publikum nicht, sondern lässt die Inszenierung eher interessant und packend wirken. Ganz nach dem Motto: Wie geht es weiter?

Wachstum gehört zum Leben dazu. Auch wenn wir unser Leben als Bühne interpretieren wollen.

Doch wer sich den Lektionen seines Lebens verschließt, wächst nicht mit und bleibt stehen.

Und diese Darsteller sind dazu angehalten ihr Publikum anders davon zu überzeugen, dass sie authentisch und ehrlich sind. Durch gezielte Täuschung kann der Einzelne sein Publikum dazu bewegen, an die Inszenierung zu glauben – obwohl Unaufrichtigkeit herrscht und der Glaube an die eigene Rolle verloren ging.

Die Bühne

Die Bühne ist der bewusst gewählte Ort der Darstellung. Je nachdem, welche Rolle ausgewählt wurde, kann diese sogar nur auf einer geeigneten Bühne performt werden. Das Bühnenbild umfasst dabei Möbelstücke, Dekorationen, die gesamte räumliche Anordnung inklusive der Kulissen. Das Bühnenbild soll der Rahmen für die szenische Darstellung des Akteurs sein. Jemand, der sich in seiner Rolle als erfolgreich, reich und prestigeträchtig darstellen will, wird sich kaum an einem Ort aufhalten, der dieser Darstellung widerspricht.

„Dementsprechend empfiehlt es sich, denjenigen Teil der Darstellung des Einzelnen „Fassade“ zu nennen, der regelmäßig in einer allgemeinen und vorherbestimmten Art dazu dient, die Situation für das Publikum der Vorstellung zu bestimmen. Unter Fassade verstehe ich also das standardisierte Ausdrucksrepertoire, das der Einzelne im Verlauf seiner Vorstellung bewusst oder unbewusst anwendet.“ – Erving Goffman

Die Fassade

Zur persönlichen Fassade gehören deshalb Aussehen, Kleidung, Rangmerkmale, Größe, Haltung, Sprechweise etc.

Dabei gilt es, zwischen Erscheinung und Verhalten zu unterscheiden. Im besten Fall sind beide Aspekte kohärent und stimmen in der Darstellung überein.

Am Beispiel des Akteurs, der sich als erfolgreich und prestigeträchtig darstellen will, müssten deshalb Erscheinung und Örtlichkeit der Rolle angepasst sein. Das bedeutet eine „teure“ Erscheinung in Form von Markenkleidung, Schmuck oder anderen offensichtlichen Statussymbolen wäre ein wichtiger Teil der Inszenierung, um andere von seinem höhergestellten Status zu überzeugen.

Gleichzeitig muss sich der Akteur aber auch an Orten aufhalten und sich so verhalten als wäre der hohe Status sein natürlicher Habitus. Es wäre für das Publikum nicht nur uneindeutig, sondern es würde auch die Darstellung anzweifeln, wenn die Fassade nicht durchgängig dargestellt werden würde.

So wäre die „teure“ Erscheinung in einer „billigeren“ Umgebung unangebracht und würde Zweifel an der Echtheit der Fassade und Rolle hervorrufen. Zugleich würde eine „billige“ Erscheinung in einer „teuren“ Umgebung ebenfalls Zweifel bei den Anwesenden hervorrufen. Die Fassade muss in jedem Fall „perfekt“ sein, um das Publikum auf Dauer zu überzeugen.

Die Erwartungen, die das Publikum deshalb an den Darsteller und seine Fassade stellt, sind dabei gesellschaftlich und sozial vorgegeben. Selten „erfindet“ der Akteur seine Rolle neu, vielmehr fügt er sich in die bestehenden Vorgaben ein.

Da jedoch die verschiedenen Rollen, die man im Laufe des Lebens einnehmen muss, nicht immer kohärent zueinander sind, können natürlich auch scheinbare Widersprüche auftreten. Während die Fassade, die man zum Beispiel innerhalb seines Berufes ausüben muss, offiziell konservativer Natur ist, bedeutet das nicht, das der Akteur diese konservative Haltung in einer anderen Rolle, wie in seinem Privatleben, ausleben muss.

Um das Publikum von seiner Rolle zu überzeugen, ist es wichtig, diese in der Interaktion und Kommunikation gekonnt darzustellen. Die Handlungen und Fähigkeiten, die mit der Rolle sozial verknüpft sind, müssen den Erwartungen des Zuschauers entsprechen.

Die Handlungen, die beispielsweise mit einer bestimmten Berufsgruppe verknüpft werden, müssen deshalb stets offensichtlich zu erkennen sein, um keine Zweifel an der eigenen Kompetenz aufkommen zu lassen. Bei dem Beruf des Polizisten sind die sozialen Vorgaben zum Beispiel sehr deutlich vorgegeben.

Die Darstellung folgt einem strengen Habitus und setzt eine gewisse Ernsthaftigkeit und eine gleichzeitige Abgrenzung in Erscheinung und Verhalten zu dem normalen Bürger voraus. Ein schludrig gekleideter Beamter, der in Interaktion mit seinem Gegenüber mit übertriebener Albernheit auftritt, löst Zweifel an dessen Kompetenz aus, da er seine Fassade für sein Publikum nicht ordentlich genug darstellt.

Eine perfekte Darstellung für ein Publikum zu präsentieren, kann bei einem skeptischen Publikum zu einem Drahtseilakt werden.

Hier können einzelne Gesten durchaus falsch oder ohne Kontext interpretiert werden, was die Glaubwürdigkeit der gesamten Inszenierung gefährden kann. Eine kleine Abweichung der vorher festgelegten Darstellung kann hier bereits zu Ablehnung führen.

Solche Inszenierungen finden besonders kulturell bedingt in formellen Situationen statt, die keinen „Fauxpas“ dulden seitens der Darsteller. Das können streng formulierte Zeremonien wie Beerdigungen sein oder auch der Habitus bestimmter Berufsgruppen.

Doch auch in einem kleineren sozialen Rahmen der Alltagshandlungen assoziieren wir bestimmte Inszenierungen mit bestimmten Merkmalen oder Eigenschaften. Sehen wir diese nicht erfüllt oder eben eine Abweichung auf der Bühne, werden wir misstrauisch bezüglich der Echtheit des Dargestellten.

Weiterlesen in „The Family Script – Die Familie als Inszenierung. Teil 2“

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