Eigenschaften des toxischen Familiensystems

Das toxische Familiensystem ist geprägt von wenig Aktivität und viel Passivität. Die Aktivität liegt primär beim Hauptakteur, dem narzisstischen Elternteil. Wäre die toxische Familie ein Theaterstück, das auf einer Bühne aufgeführt wird, wäre der narzisstische Elternteil ohne Zweifel der Hauptdarsteller jeder Inszenierung. Die anderen Familienmitglieder würden wie Statisten um die Person herum platziert, wobei ihre jeweiligen Rollen dem Narzissten angepasst werden: Jegliches Verhalten orientiert sich am narzisstischen Elternteil.

Familientreffen oder Feierlichkeiten? Alles dreht sich um den Narzissten.

Wird eine Hochzeit gefeiert? Dem Narzissten gebührt besondere Aufmerksamkeit – als narzisstische Mutter oder Vater der Braut oder des Bräutigams.

Wird ein Kind geboren? Auch hier gilt die Aufmerksamkeit dem Narzissten – als narzisstische Großmutter oder Großvater genießen sie schließlich Sonderrechte.

Sonderrechte verschafft sich der Narzisst tatsächlich in jeder Situation. So muss die narzisstische Großmutter als Erste und Einzige von der Geburt des Enkelkindes erfahren und weiterhin die Erste und Einzige sein, die das Neugeborene im Krankenhaus besucht – ungeachtet der Tatsache, dass ihr Besuch nicht erwünscht ist. Doch auch bei Hochzeitsangelegenheiten muss sich alles um den narzisstischen Elternteil drehen. Gerne übernimmt er die Kontrolle über jegliche Organisation, allerdings nicht in einem hilfreichen Sinne. Es wird so kontrolliert, dass dem narzisstischen Elternteil genug Aufmerksamkeit zuteilwird – selbst wenn es nicht seine Hochzeit ist oder gerade weil es nicht seine Hochzeit ist. So ist es überaus wichtig, wo der Narzisst sitzt, was er isst und dass seine Familie und Freunde zur Feierlichkeit eingeladen werden.

Auch der eigene Geburtstag ist für viele narzisstische Eltern DAS Ereignis des Jahres. Sie erwarten von ihren Kindern übermäßig viel Interesse und rechnen mit einem Großaufgebot an feierlichen Aufmerksamkeiten. Schließlich MUSS doch gewürdigt werden wie großartig sie als Eltern sind – und das soll jeder sehen können.

Dieser lautstarke Wunsch nach Aufmerksamkeit macht vor keinem Anlass halt. Narzisstische Eltern sonnen sich in ihrer eigenen Präsenz. Für narzisstische Eltern ist die Familie ihre Bühne.

Sie möchten kontrollieren, wie ihr Umfeld, ihr Publikum, sie wahrnimmt.

Sei es nun unternehmungslustig, großzügig, aufgeschlossen, gesellig, fröhlich oder aufopfernd: Insbesondere die narzisstische Frau liebt es, ein Publikum um sich zu scharen, das sie in der Rolle wahrnimmt, in der sie heute gesehen werden will. Ihrer Familie kommt dabei eine besondere Aufgabe zu: Als Teil des Ensembles muss sie bei jeglichen Feierlichkeiten dabei sein – sonst funktioniert die Aufführung für den narzisstischen Elternteil nicht. In seinem narzisstischen Ego haben alle in seinem näheren Umfeld seine eigene Genialität zu spiegeln.

Fehlen einzelne Familienmitglieder, stört das den Ablauf auf der Bühne, und der Narzisst steht vor einem gewaltigen Problem: Er kann Lücken nicht schließen. Er ist zwar der Star auf seiner eigenen Bühne, aber jeder Platz, der leer ist, bleibt auch unweigerlich leer. Der Narzisst ist unfähig, die Aufgaben und Rollen anderer anzunehmen und zu erfüllen. Dazu fehlen ihm Empathie und Verantwortungsbewusstsein.

Die Abwesenheit einzelner Personen macht diese Lücken nicht nur für den Narzissten offenkundig – auch das Umfeld, sein Publikum, wird dies wahrnehmen. Ein Albtraum für den Narzissten, denn er verliert die Aufmerksamkeit seines Publikums. Stattdessen stellt sich die Frage: Warum ist dein Ehemann/deine Ehefrau nicht hier? Wo ist Kind X/Y? Warum feiern sie nicht mit dir? Der Narzisst steht damit vor einem enormen Problem: Er muss die Fassade seiner Familie schützen – ohne sich selbst die Blöße zu geben. Nichts ärgert einen Narzissten mehr, als auf seine Fehler aufmerksam gemacht zu werden. Und die Abwesenheit einzelner Familienmitglieder bedeutet schlichtweg, dass etwas falsch gelaufen sein muss.

Für den narzisstischen Elternteil ist seine Familie vor allem eines: Fassade und Bühne zugleich. Die Familie ist für den Narzissten ein Apfel: Von außen ist er schön anzusehen, grün, saftig und auf Hochglanz poliert. Dreht man den Apfel, zeigt sich jedoch sein fauliges Inneres: Es sind bereits erste Löcher in der Oberfläche zu sehen, und er beginnt bereits faul zu riechen. Doch das stört den narzisstischen Elternteil keineswegs: Solange nur sein Umfeld den Apfel als gesund und schön wahrnimmt, ist seine Welt in Ordnung. Die faulige Seite des Apfels wird er hingegen niemals der Öffentlichkeit zeigen.

Dementsprechend wichtig ist es, dass auch die anderen Familienmitglieder die faulige Seite verborgen halten. Das funktioniert nur, wenn jeder in seiner vom Narzissten auferlegten Rolle bleibt.

Es ist tatsächlich niemandem gestattet, sich auf der Bühne des Narzissten frei zu bewegen, außer dem Hauptdarsteller selbst. Jeder, der sich außerhalb seiner Rolle bewegt, wird schnell wieder auf seinen Platz verwiesen: mit emotionalem Druck, Lügen, Manipulation und Demütigungen oder mit „Zuckerbrot“, zum Beispiel in Form von Geschenken.

Denn jeder, der in einem dysfunktionalen Familiensystem aufgewachsen ist, weiß: The show must go on.


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