Eigenschaften des dysfunktionalen Familiensystems

Abhängigkeiten in jeglicher Form sind ein zentraler Bestandteil des toxischen Familiensystems. Grundsätzlich sollen alle Familienmitglieder vom narzisstischen Elternteil abhängig sein. Kinder von Narzissten wachsen in einem unfreien Umfeld auf, in dem die Eltern bereits in ihrer Beziehung ungesunde Abhängigkeitsverhältnisse vorleben.

Diese Abhängigkeiten verlaufen nicht linear von einer Person zur anderen, sondern bestehen vielmehr auf beiden Seiten. Sowohl der Partner ist abhängig vom narzisstischen Part als auch der Narzisst von seinem Partner. Oft tritt in solch einer ungesunden Dysbalance der Partnerschaft auch eine Co-Abhängigkeit zutage. Der Partner hat das Gefühl, ohne den narzisstischen Part nichts wert zu sein und wird unfähig, ein selbstständiges Leben zu führen.

Eine vorgelebte Co-Abhängigkeit kann sich auch in der Beziehung der Kinder zu ihrem narzisstischen Elternteil widerspiegeln. Hier hängt das Selbstwertgefühl des Kindes an der Launenhaftigkeit des narzisstischen Elternteils: Der Wunsch, den Narzissten zufrieden zu stellen, um selbst ein Sicherheitsgefühl zu empfinden, ist übermächtig und prägt das gesamte spätere Erwachsenenleben.

Der narzisstische Elternteil spielt mit der existenziellen Abhängigkeit seiner Kinder, um Druck auszuüben und Ängste zu schüren: „Machst du nicht, was ich will, liebe ich dich nicht mehr!“, „Machst du nicht, was ich will, bekommst du heute kein Essen!“ Die Saat wird hier schon im frühesten Kindesalter gelegt, um auch später noch davon zu profitieren: „Machst du nicht, was ich will, bringe ich mich um!“ Hierfür ist dem narzisstischen Elternteil nichts zu schade, um die emotionalen Abhängigkeiten „am Laufen zu halten“. Er spielt mit Schuldgefühlen („Sieh nur, wie schlecht es mir wegen dir geht“) und Verlustängsten („Wenn mich hier niemand mehr liebt, kann ich ja einfach verschwinden!“). Es ist ein perverses Spiel, das der narzisstische Elternteil nur zu gern nach seinen Regeln spielt.

Doch auch wenn der narzisstische Elternteil emotionale (oder finanzielle) Abhängigkeiten provoziert und aufrechterhalten will, um seine Machtposition zu stärken, ist auch er abhängig von den anderen Familienmitgliedern – auch wenn der Narzisst das niemals zugeben würde.

Denn er braucht die schweigsame Loyalität aller Familienmitglieder, um überhaupt erst Missbrauch betreiben zu können. Würden diese ihr Schweigen brechen, wäre seine gesamte Fassade einer heilen Familie und der perfekten Mutter- oder Vaterrolle zunichtegemacht. Für jemanden, der keine Verantwortung für sein Handeln übernimmt, wäre das eine Katastrophe und würde eine narzisstische Krise auslösen. Solange einzelne Familienmitglieder das Schauspiel des Narzissten unterstützen, stört es den narzisstischen Elternteil kaum, wenn beispielsweise ein Kind seine Masken aufdeckt.

Denn wie soll ein Kind einen Elternteil „bestrafen“, der unfähig ist, Liebe zu empfinden? Die Wahrheit ist eine andere: Für den Narzissten ist nichts wichtiger, als sein Schauspiel einer Familie fortsetzen zu können. Und das funktioniert auch mit weniger Statisten auf seiner Bühne. Sicherlich müssen dann Rollen umgeschrieben und emotionale Lücken gefüllt werden – doch von den übrig gebliebenen Familienmitgliedern, nicht vom Narzissten selbst. Dieser spielt weiterhin ungestört seine Lieblingsrolle auf seiner Bühne.

Würde der Narzisst zulassen, dass das Fehlen eines Familienmitglieds wichtig für ihn wäre, müsste er zugeben, dass er nicht der Hauptdarsteller seiner Familie ist.

Absolut unvorstellbar für den Narzissten.

Deshalb wird der Narzisst jedes Fehlen einer einzelnen Person letztlich akzeptieren, um seine Position nicht zu gefährden. Narzisstische Methoden des Missbrauchs, wie eine Schmähkampagne gegen den „Abtrünnigen“ bei den restlichen Familienmitgliedern, werden selbstverständlich immer angewandt. Doch würde der Narzisst seine Position und die Rolle des ewigen Opfers gefährden, wenn er dem Ganzen zu viel Aufmerksamkeit schenkte. Die Botschaft an jeden lautet: „Das Familienschauspiel geht weiter – auch ohne dich.“ Geblendet von seinem Größenwahn würde es ihm niemals in den Sinn kommen, dass jemand nicht Statist auf seiner Bühne sein will. Dass jemand ihn gerne und freiwillig verlassen möchte – das ist nicht Teil seiner narzisstischen Vorstellungswelt. Die Botschaft richtet sich jedoch auch an die übrigen Familienmitglieder: „Person X/Y spielt keine Rolle mehr, so könnte es euch auch ergehen.“

Doch auch hier ist die Wahrheit, wie so oft, eine andere: Wie soll der Narzisst ohne Statisten und Publikum seine Bühne füllen und sein Theaterstück fortsetzen? Er kann nicht alleine auf seiner Bühne existieren – würde ihm die Familie den Rücken kehren, wäre das sein Ende. Dementsprechend ist es für den Narzissten existenziell, die Familienmitglieder in Abhängigkeit zu halten und ihnen gleichzeitig ihre eigene Unwichtigkeit und Ersetzbarkeit zu spiegeln. Die einzelnen Familienmitglieder sind für den Narzissten absolut ersetzbar – emotional betrachtet. Denn er hat zu niemandem eine emotional tiefere Bindung. Doch er braucht körperlich anwesende Familienmitglieder – das ist die traurige Wahrheit. Um eine Vater- oder Mutterfigur darzustellen, braucht man keine gute Verbindung zu seinen Kindern, aber man braucht eben anwesende Kinder.

Deshalb reicht dem narzisstischen Vater oder der narzisstischen Mutter ein Anruf zum Geburtstag, Geschenke zum Mutter- oder Vatertag oder ein halbherziger Besuch an den Feiertagen völlig aus – so lange es ihrem Schauspiel genügt. Das entscheidet aber einzig und allein der narzisstische Elternteil.

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