Eigenschaften des dysfunktionalen Familiensystems

Ich möchte diesen Beitrag mit einer Provokation starten: Stell dir vor, du und eine Gruppe von Menschen, ihr trefft euch zu einem geselligen Anlass. Oder im Rahmen deiner Arbeit findet ein Treffen unter Kollegen statt. Das Gespräch wechselt zufällig auf eine eher unbequeme Thematik: Missbrauch. Emotionaler, psychischer, körperlicher, sexueller Missbrauch an Kindern, wie auch an Erwachsenen – egal in welcher sozialen Beziehung und Konstellation. Kannst du dir vorstellen, dass irgendjemand der Anwesenden sagen würde: „Ja, das unterstütze ich. Bin ich dafür!“ Wohl kaum.

Jeder, absolut jeder, wird sich dagegen aussprechen. Die Opfer, insbesondere wenn es sich um Kinder handelt, in Schutz nehmen und die Täter verurteilen. Eventuell sind auch die gesetzlichen Strafen für Missbrauch noch zu milde, je nach dem in welchem Land am lebt. Es wird einige geben, die hier härtere Strafen für die Täter fordern. Genau so würde wohl dieses Gespräch verlaufen – bei so einer eindeutig moralisch verwerflichen Angelegenheit.

Doch dann gehen genau diese Menschen nach Hause und lassen ihren Worten keine Taten folgen. Denn innerhalb ihrer Familie oder nahestehenden Personen passiert genau das: Missbrauch findet statt. Und es wird weggesehen.

Ich spreche hier nicht explizit von denen, die die Taten aktiv begehen, sondern von den restlichen Familienmitgliedern innerhalb des toxischen Familiensystems: den Wegguckern, den Schweigsamen, den Tanten und Onkeln, den Großeltern, den Cousins und Cousinen, den Geschwistern, der andere Elternteil.

Denn wenn sich die wahren Opfer von Missbrauch innerhalb der Familie öffnen, egal ob nun Kind oder Erwachsener, müssen sie sich leider Aussagen gefallen lassen wie „Das glaube ich dir nicht“, „Das hast du dir nur ausgedacht“, „Du willst doch nur Aufmerksamkeit“, „Das würde deine Mutter/dein Vater nie tun“, „Deine Mutter/dein Vater ist eben ein bisschen schwierig“, „Das bildest du dir nur ein“, „Du übertreibst“ und „Ich halte mich da raus“.

Ich schreibe explizit wahre Opfer. Denn Narzissten hingegen leben ihre eigene Opfermentalität schamlos aus und müssen sich gleichzeitig solche abwertenden Aussagen nicht anhören. Wie kann das sein?

Wenn dir als Erwachsener bewusst wird, dass sich deine Mutter/ihr Vater als verdeckte Narzisstin/verdeckter Narzisst entpuppen, ist es nur verständlich, wenn du dich hilfesuchend an die restliche Familie wendest. Die Wahrheit kommt auf den Tisch.

Doch die Reaktionen darauf? Ernüchternd.

Die Reaktionen werden zwischen „Ich glaube dir nicht, du lügst“, „Das weiß ich schon“, „Ich will mich da raushalten“, „Macht das unter euch aus“ und „Es gibt immer zwei Seiten“ und „So ist sie/er halt“. schwanken. Grundsätzlich aber wird sich die emotionale Anteilnahme gegenüber den wahren Opfern im Rahmen halten.

Und etwas anderes wird gar nicht passieren: Konsequenzen für den Narzissten. Für die gesamte „neutrale“ Verwandtschaft wird die Situation nun überaus unbequem, schließlich stellt sich nun unweigerlich die Frage, wen man zur nächsten Weihnachtsfeier einladen soll. Du wirst es schon nach einem solchen Gespräch ahnen: Die Wahl wird nicht auf dich fallen.

Hinter dieser „Neutralität“ stehen jedoch nur zwei Faktoren: Angst und Selbstschutz. In einem toxischen Familiensystem gibt es keine Neutralität. Neutral bedeutet übersetzt: „Ich stelle mich auf die Seite des Täters“.

Denn wer wird denn sonst mit einer „neutralen“ Meinung geschützt? Wie kann es sein, dass sich jemand bei Missbrauch, egal in welcher Form, „neutral“ dazu verhalten will? Waren das nicht genau die gleichen Menschen, die bei dem Treffen mit Kollegen für härtere Strafen bei Missbrauch plädiert haben?

Das dysfunktionale Familiensystem verfolgt nur ein Ziel: sich selbst am Leben zu erhalten. Die narzisstischen Regeln und Strukturen dienen dazu, die narzisstischen Persönlichkeiten zu schützen; dafür wurde die Familie geschaffen. Die nahen und entfernten Verwandten sind Teil eines Systems, das sich in schädlichen und destruktiven Verhaltensweisen äußert. Durch eine kontinuierliche Realitätsverzerrung soll jedes Familienmitglied seine Rolle im System erfüllen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass alles nie mit einem narzisstischen Elternteil begonnen hat – Narzissmus und Missbrauch haben in einer früheren Generation ihren Ursprung genommen und werden nun fortgesetzt. Ein Ankläger in Form eines Sündenbocks, eines schwarzen Schafes, eines ungeliebten Kindes oder eines Cycle-Breakers bedeutet für die anderen Familienmitglieder das Risiko, selbst auf der Anklagebank zu landen.

Wer sich selbst schützen will, der ist ebenso flexibel in seinen moralischen Wertvorstellungen wie der narzisstische Täter selbst. Menschen haben bestimmte Vorstellungen und Ideen von sich, wer sie gerne sein möchten und wie ihre Umwelt sie wahrnehmen soll: Feige, ängstlich und kaltherzig gehören nicht dazu.

Jeder ist der Held in seiner eigenen Geschichte. Aber wer ist dann der Bösewicht?

Ablehnung der Wahrheit ist die Folge des Bedürfnisses, sich selbst zu schützen. Wenn mein Kind, meine Nichte, mein Neffe, mein Enkel, meine Enkelin, meine Cousine, mein Cousin, mein Bruder oder meine Schwester zu mir kommen und mir von jahrelangem Missbrauch berichten, tritt in einem toxischen Familiensystem vor allem ein Aspekt zutage: Selbstschutz. Denn würde ich das als Wahrheit akzeptieren, müsste ich mir selbst Fragen stellen wie: Welche Rolle spiele ich dabei? Wo und wann habe ich weggeschaut? Was habe ich getan, um das zu verhindern? Wo war ich, als das passiert ist? Was habe ich getan, um das zu fördern – bewusst oder unbewusst? Und: Was soll ich nun tun?

Ja, das sind unbequeme Fragen, die dann unweigerlich aufkommen. Und deren Beantwortung es leider nicht mehr möglich macht, der Held in der eigenen Geschichte zu sein.

Und dann kann der Bösewicht doch nur wieder einer sein: Das wahre Opfer.

Und alle können sich wieder beruhigt zu den Festtagen versammeln: Die „Familie“ ist gerettet.


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