Eigenschaften des dysfunktionalen Familiensystems
Das toxische Familiensystem ist geprägt von einer Dysbalance, die es unmöglich macht, den Fokus gleichmäßig auf die einzelnen Familienmitglieder zu verteilen. Stattdessen liegt der Fokus immer auf dem narzisstischen Elternteil. Unabhängig von den gegebenen Rahmenbedingungen steht der Narzisst stets im Vordergrund.
Dementsprechend lernen Kinder in einem solchen System sehr schnell, dass nur eines sie vor der Willkür des narzisstischen Elternteils „schützen“ kann: Anpassung. So wie sich der Partner und der andere Elternteil in ihrem Verhalten dem Narzissten anpassen und unterordnen, sollen und müssen auch die Kinder innerhalb eines solchen Systems agieren.
Die kindliche Entwicklung ist durch zwei Komponenten geprägt: Resilienz und Anpassung. Auch in einem gesunden Familiensystem müssen sich Kinder den vorherrschenden Dynamiken anpassen: Die Anpassung an das elterliche Verhalten, die Anpassung an Geschwisterkinder usw. Doch innerhalb einer gesunden Familienstruktur wird die Resilienz, der Widerstand, trotzdem gefördert.
Das bedeutet vereinfacht ausgedrückt: Kinder dürfen und sollen ihren eigenen Willen haben. Eltern wollen, dass ihre Kinder in der Lage sind ihren Unmut auszudrücken. Dass sie sich zu verständigen wissen, wenn sie wütend, empört oder traurig sind. Auch wenn das für die Eltern bedeutet, die Fehler bei sich selbst suchen zu müssen.
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In einem toxischen Familiensystem ist dies nicht der Fall. Hier reagiert der narzisstische Elternteil mit „Unmut“, wenn seine Kinder ihren Willen ausdrücken wollen. Denn der Wille des Kindes ist nun mal oft konträr zum Willen des Narzissten. Und Widerstand ist etwas, dass für Narzissten nicht annehmbar ist.
Deshalb wird jedes „Aufbegehren“ des Kindes unterdrückt oder später bestraft. Dieses „Aufbegehren“ eines Kindes ist jedoch eine völlig natürliche und wichtige Komponente in dessen Entwicklung und sorgt dafür, dass das Kind seine eigene Identität ausbilden kann, indem es innerhalb seiner Familie den Freiraum erleben darf, sich und seine Wünsche und Abneigungen deutlich auszudrücken und dies von den Eltern respektiert wird.
Es ist tatsächlich eine Frage des Respektes, den Eltern vor ihren Kindern haben sollten.
Denn Kinder sollten als eigenständige Individuen betrachtet werden, mit dem Wunsch die eigene Persönlichkeit ausleben zu können. Für den narzisstischen Elternteil sind jedoch seine Kinder sein Eigentum, das er nach Belieben formen und behandeln kann.
Die Kinder in einem toxischen Familiensystem sind dazu da, sich dem gängigen narzisstischem System perfekt anzupassen. Sie sollen „funktionieren“ und es dem narzisstischen Elternteil wahrlich so bequem wie nur möglich machen.
Der Narzisst bekommt Kinder, um seine Bedürfnisse gespiegelt und gestillt zu bekommen. Deshalb macht es nur Sinn, dass der Narzisst alle Kinder ungleich behandelt. Denn der narzisstische Elternteil sucht sich ein Kind aus, dass das „Geliebte Kind“ ist, während das andere das „Ungeliebte Kind“ darstellt.
Hier zeigt sich das wahre Gift des Narzissten: Das eine Kind spiegelt seine eigene Selbstüberhöhung wider, während das andere seine negative Reflexionsfläche darstellt. Auf das eine Kind werden deshalb alle „positiven“ Gefühle projiziert, während das andere als Station seiner Mängel und Komplexe herhalten muss.
Mit Liebe hat das selbstverständlich nichts zu tun, denn selbst das beliebte Kind, das „Geliebte Kind“ wird nicht geliebt: Es erfährt nur so etwas wie Liebe, wenn es sich dem narzisstischen Elternteil komplett anpasst. Dann wird es für sein Verhalten scheinbar belohnt und bekommt die für den Narzissten angemessene Menge an Zuwendung und Aufmerksamkeit.
Bei dem „Ungeliebten Kind“ läuft es insofern anders, dass dieses Kind die Erfahrung macht, es dem narzisstischen Elternteil nie recht machen zu können. Egal, ob es sich anpasst oder nicht, die nötige Zuwendung bleibt aus.
Worte des Lobes wird das „Ungeliebte Kind“ zum Beispiel nie zu hören kriegen, sondern grundsätzlich eher mit Schweigen konfrontiert werden: So wird mitunter keine direkte Kritik ausgesprochen, aber eben auch nichts Positives. Das Kind weiß also schlussendlich nie, ob das was es getan hat richtig oder falsch war. Und so hat es auch keine Möglichkeit, potentielle Fehler zu korrigieren. Das Ziel des Narzissten: Das Kind soll verunsichert werden. Es soll in einem Abhängigkeitsverhältnis zum narzisstischen Elternteil stehen bleiben.
Hat der Narzisst selbst keinerlei Kontrolle über sich selbst, seine wahren Intentionen und Gefühle, so will er sie umso mehr bei seinen Kindern. Der Narzisst hat die größenwahnsinnige Idee, dass er nicht nur das Verhalten seiner Kinder kontrollieren kann, sondern auch deren komplette Wahrnehmung seiner Person und deren Emotionen.
Spiegelt er in dem „Geliebten Kind“ seine eigene überhöhte Selbstwahrnehmung wider, so glaubt er umgekehrt auch, vom Kind überhöht wahrgenommen zu werden. Das „Geliebte Kind“ ist deshalb einer größeren Abhängigkeit ausgesetzt, da es keine Chance hat, eine eigene Identität unabhängig vom narzisstischen Elternteil zu entwickeln. Der Narzisst erwartet hier uneingeschränkte Loyalität und grenzenloses Schweigen.
Da der Narzisst unfähig ist, sein Innenleben von der Außenwelt zu trennen, hat dementsprechend ALLES was seine Kinder tun oder nicht tun etwas mit ihm zu tun – entweder sieht er seinen falschen Selbstwert oder einen Komplex gespiegelt.
Deshalb wird das „geliebte Kind“ auch oft vor Kritik von außen geschützt: Denn Kritik am Kind bedeutet Kritik an ihm selbst. Und das ist nicht akzeptabel. Das „geliebte Kind“ kann deshalb viel falsch machen; solange es den Wünschen des narzisstischen Elternteils entspricht, wird es keine Kritik dafür erfahren. Denn der Narzisst lebt in seiner eigenen moralischen Welt, in der „richtig“ und „falsch“ entsprechend seiner Werte festgelegt werden.
Das „Ungeliebte Kind“ hingegen wird zwar auch in einem stetigen emotionalen Abhängigkeitsverhältnis gehalten, doch aus anderen Gründen. So lange dieses Kind seine Position behält, ist es dem narzisstischen Elternteil möglich seine negativen und destruktiven Emotionen sehr einfach abzuladen.
Wut, Neid, Eifersucht, Scham, Schuld, Hass – all jene zerstörerischen Gefühle, die der Narzisst in seinem Inneren trägt, werden zwar auf alle Familienmitglieder projiziert, aber mit besonderer Intensität auf das „Ungeliebte Kind“. Schlussendlich ist es dieses Kind, das immer für das narzisstische Fehlverhalten verantwortlich gemacht werden wird. Der Narzisst macht doch niemals etwas falsch – dann kann es nur das „Ungeliebte Kind“ sein.

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